Für Regina ist der Frauenbrunnen ein besonderes Kunstwerk – nicht nur wegen seiner Geschichte, sondern auch wegen der Erinnerungen, die sie mit ihm verbindet. „Er wurde Anfang der 70er Jahre von dem Künstler Lichtenfeld entworfen, der nur noch einen Arm hatte. Eigentlich heißt er Frauenbrunnen, aber viele nennen ihn bis heute Lichtensteinbrunnen.“
Vor allem in den 90er Jahren war der Brunnen an heißen Tagen ein Magnet für die Jüngsten. Auch Reginas Sohn liebte es, dort zu spielen.
Auch die Kleidung der ersten Kinder von Halle Neustadt musste einiges mitmachen, lässt mich Regina wissen: “Unser Junge hatte so eine Knickerbocker-Lederhose. Und da haben sie an der Magistrale gebaut hier. Der kam wieder die Lederhose voller Schlamm. Die konnten wir hinstellen.”
„Wir haben immer gesagt, unser Junge, der geht da nicht baden."
Doch wie es bei Kindern oft so ist, ließ er sich irgendwann doch von den anderen mitreißen.“
Ein harmloses Spiel endete eines Tages mit einer schmerzhaften Lektion. „Er zog sich dabei einen Splitter ein. Doch es war kein gewöhnlicher Holzsplitter, sondern ein scharfkantiger Glassplitter, der sich tief in seine Haut gebohrt hatte.“ Zunächst schien die Verletzung nicht weiter schlimm, doch wenige Tage später, als die Familie im Urlaub in Neustadt am Rennsteig war, wurde klar, dass die Sache ernster war. „Während die Kinder dort spielten, bemerkten wir, dass sich die Verletzung unseres Sohnes verschlimmerte. Eine feine rote Linie zog sich bereits von der Wunde nach oben – ein Zeichen für eine beginnende Blutvergiftung.“
Dann hatte die Familie Glück im Unglück. „Der Vater eines der Kinder war Chirurg. Als er sich die Wunde ansah, sagte er geschockt: ‚Das eitert ja schon, das muss sofort raus!‘ Dann nahm er eine große Nadel, glühte sie aus und entfernte den Glassplitter.“ Es war ein schmerzhafter Moment, doch am Ende verlief alles gut.
Regina und Heidi gehören zur ersten Generation der Bewohner von Neustadt. Sie erinnern sich noch an die Anfangszeit der sozialistischen Siedlung, die in den 1960ern vor allem von Bauschutt und Witterung geprägt war: “So sah das damals überall aus. Kein Grün, kein Schatten. Dadurch haben ja auch alle irgendwas an der Haut. Das war nicht lustig, wirklich nicht. Aber es ging ja nicht anders. In dieser Zeit waren Gummistiefelchen angesagt. Gummistiefelchen waren Pflicht. Unsere Schuhe waren eingetieft, da kamst du manchmal ja nicht wieder raus, wenn es geregnet hatte.”
Auch die Kleidung der ersten Kinder von Halle Neustadt musste einiges mitmachen, erzählt Regina: “Unser Junge hatte so eine Knickerbocker-Lederhose. Und da haben sie an der Magistrale gebaut hier. Der kam wieder, seine Lederhose voller Schlamm. Die konnten wir hinstellen.”
Die Kindergärtnerin Heidi erinnert sich aber auch an schöne Momente aus den ersten Jahren von Neustadt: “Bei uns kamen die mit dem Betonmischer und haben die Parkplätze vorm Haus gegossen. Da haben sich unsere Kinder noch verewigt, mit ihren Füßchen drinnen. Es war auch immer eine Riesenfreude, wenn etwas fertig war.”
„Ich habe manchmal Sonntags mit meinem Mann die kleinen Bäume gegossen. Da hatten wir aus Spaß gesagt, wenn wir mal 60 sind, dann ist da eine Bank drunter, dann sitzen wir unter unseren Bäumen und das war dann tatsächlich so."
Mittlerweile gibt es mehr als genug Bäume in Neustadt, unter denen die Bewohner ein schattiges Plätzchen finden können, auch im Zentrum. Das ist unter anderem der Verdienst von damaligen Bewohnern der Neustadt wie Heidi und Regina: “Also begrünt haben sie unsere Neustadt fantastisch. Die Bäume sind schön gewachsen und wurden auch von uns damals gepflegt. Da gab es so eine Art Baum-Patenschaft. Genauso wie bei den Kunstwerken. Das war uns echt ein Anliegen. Ich bin manchmal dann am Sonntag mit meinem Mann hin und hab die Bäume gegossen. Da hatten wir mal aus Spaß gesagt, wenn wir 60 sind, dann ist da eine Bank drunter, dann sitzen wir unter unseren Bäumen und das war dann tatsächlich so.”
Markus-Andreas Mohr, geboren 1971 in der Lutherstadt Eisleben, wuchs in Halle-Neustadt auf. Im Kleinkindalter zog seine Familie in einen frisch errichteten Wohnblock, Block 767, Haus 2, im fünften Wohnkomplex. „Das ist so ein Neustadtsprech, der meine Sozialisation ganz stark geprägt hat.” Ein besonderer Ort, der ihm im Gedächtnis blieb, ist die große Versorgungseinheit „Gastronom“, umgangssprachlich „das Gastro“ genannt. Der Platz um die Milchbar und das Lokal selbst war nicht nur ein sozialer Treffpunkt für Erwachsene, sondern auch für Kinder, Eltern und ältere Menschen. “Hier hat man sich getroffen, Kaffee getrunken und Zeit miteinander verbracht.” Auf dem Freisitz mit Ausschankfenster konnte man auf Gartenmöbeln in der Sonne sitzen.
„Hier hat man sich getroffen, Kaffee getrunken und Zeit miteinander verbracht.”
An Feiertagen, wie dem Republikgeburtstag am 7. Oktober oder dem 1. Mai, dem Arbeiterkampftag, nahm der Freisitz eine zentrale Rolle im Leben der Menschen in Halle-Neustadt ein. Es gab dort eine Tradition mit den sogenannten „Mainelken“ – kleinen roten Nelken aus Plastik, die als Anstecknadeln dienten. Sie wurden von den Betrieben ausgegeben und funktionierten wie eine Art Währung. „Wenn man mit einer Mainelke am Revers zum Freisitz kam, hat man dafür ein Bier und eine Bockwurst bekommen“, erzählt Markus-Andreas. Diese Tradition spiegelte nicht nur die Besonderheiten des sozialen Lebens in der DDR wider, sondern auch die Art und Weise, wie der Alltag durch bestimmte Rituale und Symbole strukturiert wurde. Für Markus-Andreas bleibt dieser Ort und die Erlebnisse, die er dort hatte, ein fester Bestandteil seiner Biografie. Heute lebt Markus-Andreas zwar nicht mehr in Halle-Neustadt, doch die Erinnerungen an seine Jugend und an die prägenden Orte dieser Zeit sind noch immer lebendig.
Nico Fehse gehörte zu einer der ersten Generationen von Kindern, die vollständig in Neustadt aufgewachsen sind. Während seiner Kindheit in den 80er Jahren war die Infrastruktur der Stadt bereits ausgebaut. Unter anderem fuhren auch zwei Buslinien durch die Siedlung. An seine Busreisen durch die Stadt erinnert sich Nico heute allerdings nur ungern: “Es waren solche Busse, Ikarus hießen die. Es gab dann zwischendurch natürlich auch neuere Modelle, aber das kann man nicht vergleichen mit dem Komfort, den man heute hat. Heute sind die Busse weich, die schwanken nicht, die sind leise. Die haben eine entsprechende Leistung, du kannst ein Fenster aufmachen. Das war hier nicht so. Im Sommer war es Sauna. Richtig Sauna. Die Sitze waren eher unbequem. Die Motoren waren relativ laut. Es stank. Die waren teilweise untermotorisiert, das würde ich heute so beurteilen. Die mussten unheimlich hohe Drehzahlen fahren, um überhaupt ein bisschen auf Tempo zu kommen. Du hast dann auch die Abgase gerochen, das Benzin, den Diesel.”
„In die Innenstadt zu kommen, war immer mit Arbeit verbunden. Und ich war schon immer faul."
Nico erinnert sich aber auch noch an ein paar Vorteile des damaligen ÖPNV: “Die Taktung war aber cool, da ist wirklich alle 5 oder 10 Minuten irgendeiner der Busse gefahren. Man brauchte nicht auf den Fahrplan gucken, man hat sich hingestellt und hat dann 5 Minuten gewartet und irgendeiner kam immer. Ich glaube, damals waren es die V und die S. Es war auch preiswert, aber wenn es nicht sein musste, sind wir keinen Bus gefahren.Teilweise warst du dann auch mit Laufen schneller. Dadurch, dass man die tägliche Versorgung so in der Nähe hatte, musste man nicht zwangsläufig ständig in die Stadt. War einfach so. Vielleicht 2 Stationen, viel weiter, musste man wirklich, zumindest für Alltagssachen, nicht weg. In die Innenstadt zu kommen, war immer mit Arbeit verbunden. Und ich war schon immer faul.”
Für Sandra war das Gebiet beim „Block 10“ mehr als nur ein Ort – es war ihre eigene kleine Welt. „Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen. Man nennt es wohl den langen Eugen – warum eigentlich? Für mich war es immer der 10er Block, weil er so unglaublich lang war und immer noch ist. Vielleicht war es sogar Ostdeutschlands längstes Haus?“
Der 1967 in Plattenbauweise errichtete Wohnkomplex war mit seinen 380 Metern Länge und zehn Stockwerken das größte Wohngebäude der DDR. In Spitzenzeiten lebten hier rund 3.000 Menschen. Damit Fußgänger nicht riesige Umwege in Kauf nehmen mussten, wurden drei Durchgänge in das Gebäude integriert. Wegen seiner imposanten Größe trug der Block auch den Namen „Weißer Riese“.
„Plötzlich lebten wir in einem Plattenbau mit Heizung und Fernwärme. Ich brauchte bloß den Wasserhahn aufdrehen und das Wasser war warm, was ich so nicht kannte."
Für Sandra waren die Plattenbauten über viele Jahre schlichtweg ihr Zuhause. Doch als sie in ihrer Jugend nach Halle-Neustadt zog, bedeutete das zunächst eine große Umstellung: „Wir hatten eine warme Wohnung, wo wir nicht mehr mit Kohle heizen mussten. Es war ein Kulturschock, aber ein angenehmer Kulturschock. Plötzlich lebten wir in einem Plattenbau mit Heizung und Fernwärme. Ich brauchte bloß den Wasserhahn aufdrehen und das Wasser war warm, was ich so nicht kannte.”
Auch wenn Sandra seit 2004 nicht mehr in Neustadt lebt, bleibt das Gebiet beim 10er Block für sie untrennbar mit ihrer Jugend verbunden. „Für mich bleibt er immer ein Stück Heimat.“
Amely gehört zu der jüngsten Generation, die in Halle Neustadt aufgewachsen ist. Für sie war der Gastronom, der 1967 als riesiger Gaststättenkomplex aus Beton, Aluminium und Stahl fertiggestellt wurde, mehr als nur ein Gebäude – er war der Mittelpunkt ihrer Jugend: „Ich habe meine ganze Kindheit beim Gastronom verbracht. Ich wohnte dort direkt in einem der großen Blöcke. Jeden Morgen musste ich dort vorbei, wenn ich zur Grundschule am Zollrain wollte.“
Der Gastronom war nicht nur ein Ort zum Essen, sondern ein zentraler Punkt des Viertels. Nach dem sozialistischen Planstadt-Prinzip sollte hier alles für das tägliche Leben bereitstehen: Schulen, Kindergärten, Einkaufshallen, eine Apotheke, eine Post, eine Sparkasse. Die Idee dahinter: kurze Wege für alle.
Aber für Amely waren es nicht die großen städtebaulichen Visionen, die ihre Erinnerungen prägten, sondern die Menschen und Erlebnisse: „Ich hatte eine Freundin, die mit mir in dem Block gewohnt hat. Jeden Morgen habe ich sie abgeholt, und dann sind wir zusammen zur Schule gelaufen.“ Nicht alle Begegnungen waren unbeschwert: „In unserem Block lebten auch ältere Menschen. Manchmal haben wir eine Dame getroffen, die wirklich wie ein Geist aussah. Sie sprach mit der Katze, als wäre sie ein Mensch und sagte ihr, sie solle mit uns zur Schule kommen und lernen. Das war ziemlich gruselig für uns Kinder.“
Dennoch überwiegen die schönen Erinnerungen. Nach der Schule gehörte der Platz rund um den Gastronom den Kindern. „Ich habe alle meine Nachmittage dort verbracht, mit Klassenkameraden und Freunden. Es gab auch eine Freundin von mir, deren Eltern so ein Asia Bistro geleitet haben, und da sind wir auch manchmal zu denen vorbei und haben was zu essen bekommen.“
„Alle meine Nachmittage nach der Schule habe ich am Gastronom verbracht und mit Klassenkameraden und Freunden gespielt.”
Auch die Umgebung wurde intensiv genutzt – so, wie es ursprünglich geplant war. „Da gab es diese hohen Gräser, ich weiß nicht, ob die wirklich so hoch waren oder ob das nur so in meiner Erinnerung ist. Aber wir konnten uns da richtig gut drin verstecken.“ Die Rasenflächen wurden für alles Mögliche genutzt: „Wir haben da Ball gespielt, und es gab diese Mauern mit den Löchern drin. Da sind wir hochgeklettert oder haben sie als Hindernisse für unsere Spiele benutzt.“
Mit zwölf Jahren war der Gastronom für Kristin und ihre Freunde der Place to be in der Nachbarschaft. „Wir hatten dort unsere feste Anlaufstelle. Es lief meistens so: ein kurzer Stopp bei Netto, eine Tüte Chips schnappen und dann ab zu unserem Spot. Wir setzten uns einfach irgendwo hin und beobachteten das Geschehen. Es war vielleicht nicht das Spannendste, aber es war unser Ding.“
Der Platz rund um den Gastronom war ein alltäglicher Treffpunkt für die Jugendlichen – so wie es in den frühen Jahren von Halle Neustadt geplant war: kurze Wege, Orte zum Zusammenkommen. Doch die Zeit war eine andere. „Als ich zwölf war, also so 2015, war die Welt noch ein bisschen anders. Ohne Handys verbrachten wir die Zeit anders, wir lasen zum Beispiel die Bravo.“
„Wir hatten unsere Tüte Chips und unsere Bravo – mehr brauchten wir nicht."
Ihr Lieblingsort war eine Bank, die nicht direkt zum Gelände des Wohnheims gehörte, das im großen Block gegenüber vom Gastronom lag. „Das war unser Platz. Da haben wir uns nach dem Einkauf getroffen und einfach geredet.“ Heute kommt sie nur noch selten vorbei. „Ich kenne dort auch niemanden mehr. Die meisten, die ich aus Neustadt kannte, sind mittlerweile weggezogen. Nicht weit, aber sie leben nicht mehr in Neustadt.“
Kristin ist in Halle-Neustadt aufgewachsen und lebt noch immer in der Stadt, die sie ihre Heimat nennt. Sie hat ihre Kindheit und Jugend dort verbracht und ist heute Studentin. Ihre Erfahrungen mit Halle-Neustadt sind tief verwurzelt, jedoch blickt sie auch oft mit gemischten Gefühlen auf die Entwicklung ihres Stadtteils.
„Also ich war nie in dem See baden“, sagt Kristin, wenn sie über den Bruchsee spricht. Für sie war das Gewässer nie ein Ort zum Schwimmen, sondern eher eine Kulisse, an der sie regelmäßig vorbeikam. „Wir haben da manchmal Fahrradtouren außenrum gemacht.“ Ihre Kindheitserinnerungen sind geprägt von einem offenen Ufer, das noch freier zugänglich war.
Inzwischen hat sich der See in Kristins Erinnerung verändert. „Es ist sehr leicht zu vergessen, dass dieser See existiert, finde ich“, erklärt sie. Die zunehmende Bebauung und die Straßen rund um den See haben ihn in den Hintergrund gedrängt, sodass er von vielen, einschließlich Kristin, beinahe vergessen wird.
„Ich habe sofort ältere Bilder im Kopf, wo der See noch nicht so zugewachsen ist.”"
Doch nicht nur der Bruchsee, sondern auch die ungenutzten Scheibenhäuser prägen Kristins Sicht auf Halle-Neustadt. Besonders die leerstehenden Blöcke sind für sie ein Symbol für Stillstand. „Solange ich mich erinnern kann, war da noch nie irgendwas drin. Für mich waren das einfach nur Gebäude, die da standen“, erklärt sie und erinnert sich daran, dass immer wieder über Sanierungen gesprochen wurde, die am Ende nie umgesetzt wurden. „Es war immer direkt klar, dass es zu viel kostet.”
Heute betrachtet Kristin diese ungenutzten Bauten mit einer Mischung aus Bedauern und Resignation. „Es ist ein bisschen frustrierend, auch mit dem Wissen, dass fast alle leer stehen und dann über Wohnungsmangel in Halle geredet wird.“ Sie sieht Potenzial in den Scheibenhochhäusern, das allerdings nicht voll ausgeschöpft wird, denn bisher wurde nur einer der fünf Blöcke erneuert.